Host-Info
Otto H. Urban
Institut für Ur- und Frühgeschichte,
Universität Wien
 
ORF ON Science :  Otto Urban :  Gesellschaft 
 
Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie
Gefährliche Ideologien, Wegbereiter des Völkermordes
 
  Die Rolle der Anthropologie in der NS-Zeit wird seit Mitte der 90er Jahre von Wiener AnthropologInnen intensiv erforscht. Die Wurzeln der Euthanasie, die Ideologie der so genannten "Rassenhygiene", ist Thema einer Podiumsdiskussion, die heute um 15.30 Uhr an einem der Wiener Tatorte - der Baumgartner Höhe - stattfindet.  
Vorgeschichte
Der Gedanke, erbkranke bzw. behinderte Neugeborene gleich nach der Geburt zu töten, kam bereits um 1860 in der Natur- und Moralphilosophie von Ernst Haeckel vor. Um 1890 kam dann die Rassenhygiene von Alfred Ploetz auf. Haeckel sprach 1904 die Forderung aus, unheilbar Kranke aus Mitleid zu töten.

Während der Zeit des 1. Weltkrieges wurde von Roland Gerkan in der Zeitschrift des Deutschen Monistenbundes ein Gesetzesvorschlag zur Freigabe der Sterbehilfe diskutiert. Dabei waren die Grenzen zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" fließend. So sollten nicht nur Sterbende im Stadium der Agonie getötet werden, sondern auch Behinderte, deren Leiden keineswegs zum Tode führen mussten, wobei das Einverständnis der Betroffenen, bei Geisteskranken etwa, nicht vorliegen musste. Auch wurde bereits die Belastung der Gesamtgesellschaft durch Kranke und Behinderte angesprochen, die eine Tötung rechtfertigen sollte.

1920 forderten Karl Binding (ein Jurist) und Alfred Hoche (ein Psychiater) die Freigabe der "Vernichtung lebensunwerten Lebens". Sie schlugen vor, die in den Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands lebenden so genannten "geistig Toten" zu töten, da diese die Volkswirtschaft unerträglich belasteten.
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Grundlagen der Rassenhygiene
1. Gesellschaftsgeschehen beruht auf der darwinistischen Evolutions- und Selektionstheorie (Naturgesetz), d. h. sie basiert auf den Ideen des Sozialdarwinismus.
2. Fortschritt der menschlichen Entwicklung erfolgt durch das Selektionsprinzip innerhalb der Gesellschaft.
3. Idee der Züchtung von "Übermenschen".
4. Verneinung des Individuums zu Gunsten der Volksgemeinschaft.
5. Die Reinheit der Volksgemeinschaft stellt einen Wert dar, der u.a. durch die Volksgesundheit scheinbar "objektiv" messbar war.

Die Rassenhygiene konnte sich in ihrer Pseudowissenschaftlichkeit zwischen den Naturwissenschaften, der Soziologie, Geografie und Geschichte breit machen. Prinzipien der Biologie wurden für die Gesellschaft (Sozialdarwinismus) und Wirtschaft angewendet (Manchester-Liberalismus). Die sozialistischen Ideen, die diesen "Naturgesetzen" scheinbar widersprachen, wurden von den Anhängern einer Rassenhygiene - politisch zumeist dem Lager der Deutschnationalen und Nationalkatholiken nahe stehend - bekämpft. Die Eindämmung der Tuberkulose, einer typischen städtischen "Proletarierkrankheit", oder der Aufbau der Sozialversicherungen stand daher nach der Logik der Rassenhygieniker im Gegensatz zu diesen scheinbaren "Naturgesetzen". Es befanden sich allerdings auch bedeutende Sozialdemokraten wie Prof. Julius Tandler unter den Befürwortern der Zwangssterilisation (1929).
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Otto Reche und die Rassenhygiene in Wien

Die deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene versuchte gezielt Einfluss auf das Gesundheitswesen, die Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik auszuüben. In der Eröffnungssitzung der Wiener Gesellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene) am 18. März 1925 im Festsaal der Universität Wien sprach der damalige Direktor des Anthropologischen Instituts an der Universität Wien, Univ.-Prof. Otto Reche, über "die Bedeutung der Rassenpflege für die Zukunft unseres Volkes".

Diese Wiener "akademisch-wissenschaftliche" Vereinigung hatte 1938 - trotz der, für sie, in der Verbotszeit schwierigen Jahre - allein 517 Mitglieder und war, wie man ebenfalls nach dem "Anschluss" stolz einbekannte, aufs Engste mit der NS-Bewegung verbunden (freundl. Mitteilung HR. Univ-Doz. Maria Teschler-Nicola). Die Gesellschaft breitete dann ihre Tätigkeit über die ganze "Ostmark" aus und wurde eine der größten Ortsgruppen der "Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene".

An den medizinischen Fakultäten wurden nach dem März 1938 die "erb- und rassenbiologischen Lehren" offiziell in den Forschungs- und Lehrbetrieb integriert. Besonderen Nutzen zogen daraus die Anthropologen, die sich neben einschlägigen Publikationen durch "rassenkundliche Gutachten" in Abstammungsprozessen beträchtliche Einkommen sicherten (DÖW).
->   DÖW
Haarsammlung
 


Beispiel der "Haarsammlungen" der Somatologischen Sammlung im NHM, welche auch für erbbiologischen Vaterschafts- und so genannten Abstammungsgutachten ("Rassegutachten") Verwendung fanden.
Von Verhütung zur Vernichtung

v. Galen
Bild, seitlich: Den größten und zugleich ethisch und forschungsgeschichtlich problematischsten Teil der Sammlung bilden, wie die Mitarbeiterinnen der Abteilung schreiben, die rund 350 Gesichtsmasken. Sie wurden im Zuge der umfangreichen Forschungs- und Sammlungstätigkeit der Wiener Anthropologen während der NS-Zeit von Kriegsgefangenen und Shoa-Opfern abgenommen.

1. Durch das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom Juli 1933 wurde in Deutschland die rassenhygienisch indizierte Sterilisierung gegen die Bedenken des Vizekanzlers von Papen legalisiert (betroffen waren zwischen 1934 und 1945 etwa 400.000 Menschen, wobei bei der Sterilisation etwa 5.000 Frauen und 600 Männer starben).

2. 1935 wurde die Abtreibung aus rassenhygienischen Gründen erlaubt, sie führte zu rund 30.000 Schwangerschaftsabbrüchen.

3. Bereits 1935 wurde erstmals auf dem Reichsparteitag die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" gefordert. 1938/1939 erwirkte der Reichsausschuss eine Führervollmacht zur Durchführung der "Kindereuthanasie", wodurch mehr als 5.000 behinderte Babys und Kinder durch überdosierte Medikamentengaben oder Nahrungsmittelentzug umgebracht worden sind.

4. 1940 begann die Erwachsenen-Euthanasie. Die dafür zuständigen Stellen beschäftigten zwischen 300 und 400 Personen, darunter 60 fest angestellte Ärzte. Über 70.000 Insassen von Heil- und Pflegeanstalten, darunter etwa 1.000 Menschen jüdischer Herkunft, wurden ermordet; außerdem wurden rund 20.000 KZ-Häftlinge als "gemeinschaftsfremd" ausgesondert und ebenfalls umgebracht. Nur selten wurde dagegen öffentlicher Widerstand laut, beispielsweise vom Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen.
->   Bischof Clemens
5. Von 1941-43 wurden Euthanasieaktionen in Arbeitshäusern, Fürsorge- und Altersheimen sowie Pflege- und Heilanstalten durchgeführt, wobei von den rund 60.000 Getöteten fast die Hälfte polnische und sowjetische Zwangsarbeiter waren.

6. Diese "Vernichtung lebensunwerten Lebens" bildete die Vorstufe zur "Endlösung der Judenfrage", die 1941 in Polen begann.
Folgen unkontrollierter "Reformen"

Bis zum Beginn des "Dritten Reiches" verlief das rassenhygienische Programm, in dessen Mittelpunkt die Sterilisierung stand, in Deutschland in denselben Bahnen wie in zahlreichen anderen Staaten.

Nach der Wahl Hitlers setzte jedoch ein rascher und unkontrollierter "Reformprozess" ein, der dazu führte, dass die rassenhygienisch begründete Sterilisierung im Deutschen Reich ein beispielloses Ausmaß erreichte und den Übergang von der Verhütung zur Vernichtung "lebensunwerten" Lebens ermöglichte.

Die Absurdität dieses Systems zeigt sich auch daran, dass diese Tötungsmaschinerie in "Heilstätten" stattfand, die mit modernsten therapeutischen Apparaturen ausgestatteten waren und zur Aus- und Fortbildung der Anstaltsärzte dienen sollten. Als Begründung führten die Ärzte, die im Rahmen der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" wirkten, in der Regel so genannte Grundlagenforschung an.

In den Forschungsabteilungen wurden wissenschaftlich interessante Fälle klinisch beobachtet, bevor sie in die Tötungsanstalten überfuhrt wurden. Ihre Gehirne wurden zur pathologisch-anatomischen Untersuchung in die Forschungsabteilungen zurückgebracht.

Es dauerte oft mehr als ein halbes Jahrhundert - und so manchen Anstoß von außen -, dass diese menschenverachtende inhumane "Forschung" von ihren Nachfolgern kritisch bewertet wurde und die Konsequenzen gezogen werden.
->   Anthropologie im Nationalsozialismus
Zeitgeschichte und Anthropologie
Im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Institut für Zeitgeschichte (Gustav Spann und Peter Malina) und dem Naturhistorischen Museum Wien (Margit Berner und Maria Teschler-Nicola) wurden die Inventare, welche in der Zeit von 1938-1945 in die Sammlungen gelangten, systematisch durchgesehen und kritisch gewürdigt. So weit möglich, wurden die Bestände zur Bestattung übergeben.

Bild: Unterer Kuppelhallenrundgang mit Teilbeständen der Osteologischen Sammlung (Copyright aller Bilder: NHM Wien).
->   NHM Wien und Senatsbericht
Geschichte der Anthropologie in Wien
->   Geschichte der Anthropologischen Abteilung (heute Archäologische Biologie und Anthropologie), NHM Wien
->   Geschichte des Instituts für Anthropologie der Universität Wien
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3. Symposion zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien
Vorreiter der Vernichtung?

Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie in der ¿sterreichischen Diskussion vor 1938

6. und 7. Mai 2002 im Sozialmedizinisches Zentrum Baumgartner H¿he, Jugendstiltheater, Baumgartner H¿he 1, 1145 Wien

Ehrenschutz: B¿rgermeister Michael H¿l,
Vizeb¿rgermeister Sepp Rieder und Stadtr¿n Prim. Elisabeth Pittermann-H¿cker

Montag, 6. 5. 2002
9.00 c. t. Er¿ffnung und Begr¿¿ng:
10.00 - 12.45 Vorsitz: Gerhard Baader (Berlin)
- Horst Seidler (Wien): Eugenik, Rassenhygiene, Zwangssterilisierung: geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Wurzeln, internationale Aspekte.
- Maria Teschler-Nicola (Wien): Momentaufnahmen zur Geschichte der Anthropologie in Wien.
- Margit Berner (Wien): Forschungs-"Material" Kriegsgefangene:
Die Massenuntersuchungen der Wiener Anthropologen an gefangenen Soldaten.
- Maria Teschler-Nicola (Wien): Der diagnostische Blick:
Zur Geschichte der Fachgesellschaften und erbbiologischen Gutachtert¿gkeit in ¿terreich.
- Verena Pawlowsky (Wien): Quelle aus vielen St¿cken:
Die Korrespondenz der Anthropologischen Abteilung.
- Claudia Spring (Wien): Staatenloses Subjekt, vermessenes Objekt: Anthropologische Untersuchungen an staatenlosen Juden.
- Katarina Matiasek (Wien): Photografisches K¿rperbild und numerisches Menschenbild vor 1938.
14.00 - 16.00: Vorsitz: Wolfgang Neugebauer (Wien)
- Michael Hubenstorf (Wien): Sozialistische Eugenik?
- Monika L¿scher (Wien):"...der gesunden Vernunft nicht zuwider"
Konfessionelle Milieus und Eugenik.
16.30: Wolfgang Neugebauer/Herwig Czech (Wien):
F¿hrung durch die Ausstellung "Der Krieg gegen die 'Minderwertigen': Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien."

Dienstag, 7. 5. 2002
9.00 - 12.30: Vorsitz:Michael Hubenstorf, Wien
- W. Neugebauer/Peter Malina: Die Wiener Gesellschaft f¿r Rassenhygiene und die ¿sterreichischen Universit¿n.
- Thomas Mayer (Wien): "dass die eigentliche ¿sterreichische Rassenhygiene in der Hauptsache das Werk Reichels ist".
Der (Rassen-)Hygieniker Heinrich Reichel (1876-1943) und seine Bedeutung f¿r die eugenische Bewegung in ¿terreich.
- Herwig Czech (Wien):
Der Krieg gegen die "Minderwertigen": Zur Praxis der "Erb- und Rassenpflege" im Reichsgau Wien 1938-1945.
13:30 Wolfgang Neugebauer/Herwig Czech (Wien):
F¿hrung durch die Ausstellung "Der Krieg gegen die 'Minderwertigen': Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien."
14.00 - 15.00 Vorsitz: Erich Loewy (Sacramento)
- Michael Wunder (Hamburg): Medizin und Gewissen
15.30 - 18.00 Podiumsdiskussion, Moderation:Peter Huemer
Teilnehmer: Mitchel Ash (Wien), Gerhard Baader (Berlin), Ernst Berger (Wien), Erich Loewy (Sacramento), Sepp Rieder (Wien)
Manfred Srb (Wien), Hubertus Trauttenberg (Salzburg)
->   Ausstellung und Symposion zur Rassenhygiene
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Fallbeispiel Münster
Seilschaften zwischen den Professoren
Für die Universität Münster scheint sich zu bestätigen, was Michael Schwartz als Phänomen beschrieb:

"Derselbe Wissenschaftler, der im Weimarer Kontext die eugenischen Grundlagen relativ nüchtern beurteilte, wandelte sich im 'Dritten Reich' zum radikalen Anwendungs-Eugeniker, um [...] in der Bundesrepublik wieder moderat zu argumentieren."

Das wahrscheinlich deutlichste Beispiel eines wandlungsfähigen Wissenschaftlers erlebte die Universität Münster 1951, als Otmar von Verschuer - Fischers Nachfolger auf dem Chefsessel des KWIA in Berlin-Dahlem und während des "Dritten Reiches" eng vertraut mit Josef Mengele - die Leitung des Institutes für Humangenetik übernahm. Die Berufung war, wie der Autor trocken feststellte, "das Verdienst alter Seilschaften".
->   Jan N. Dicke, Eugenik und Rassenhygiene im wissenschaftlichen Diskurs der Universität und des Gesundheitswesens der Stadt Münster 1918-1939
 
 
 
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