Host-Info
Reinhold Wagnleitner
Institut für Geschichte, Universität Salzburg
 
ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft 
 
"Zivilisation" gegen "Jihad"?
Oder: zwei Fundamentalismen gegen die Freiheit?
 
  Drei Tage nach den furchtbaren Terroranschlägen in New York und Washington fand Jerry Falwell, einer der bedeutendsten Führer der "christlichen Koalition" der USA in der TV-Show "700 Club" seines langjährigen Mitstreiters Pat Robertson klare Worte. "Gott lässt sich nicht verspotten".  
Liederlicher Lebenswandel schuld?
Neben den Terroristen sei daher selbstverständlich besonders der immer weiter um sich greifende liederliche Lebenswandel vieler Amerikaner(innen) für die Attacken mitverantwortlich.

"Gott", so Falwell zu Robertson, "beschützte Amerika die letzten 225 Jahre wunderbar."

Aber wegen des Hinauswerfens von Gott mit Hilfe der liberalen Rechtssprechung, seiner Entfernung aus dem öffentlichen Raum und Schulen habe er nun seine schützende Hand von Amerika abgezogen.
Gott ist zornig
Im Klartext: Gottes Zorn sei durch die Schuld der Heiden, der Abtreibungen, der Feministen, der Homosexuellen, der Lesben und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, also all jener, die versuchten Amerika zu säkularisieren, heraufbeschworen worden.

Selbstverständlich stimmte Robertson, 1988 auch Bewerber um die republikanische Präsidentschaftskandidatur, seinem Gast aus vollem Herzen zu.
->   You helped this happen: Falwell's Controversial Comments Draw Fire
ABC News 14. September 2001
Nachträgliche Distanzierung
Tatsächlich wurden diese hasserfüllten Tiraden von vielen Kommentatoren umgehend empört zurückgewiesen. Nachdem auch Präsident George W. Bush, der von der "christlichen Rechten" entscheidende Wahlunterstützung erhalten hatte, Falwell auf dem Weg zum gemeinsamen Gedenkgottesdienst in der National Cathedral in Washington mitgeteilt hatte, dass er diese Äußerungen als unpassend erachtete, zog Falwell seine Anschuldigungen mit Bedauern zurück. Auch Robertson und sein Team distanzierten sich.
Ein Ausrutscher als Teleskop
Dieser öffentliche "Ausrutscher" der Televangelisten, deren Programme täglich von bis zu einem Fünftel der US-Bevölkerung mit Inbrunst verfolgt werden, ermöglicht einen, wenn auch sicherlich nur oberflächlichen, Einblick in die Gedankenwelt jenes Teils der Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika, dessen Zorn und Ablehnung, dessen Empörung und Hass auf die tiefgreifenden ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen und ethnischen Veränderungen der letzten 50 Jahre nur ganz unzureichend vom Deckmäntelchen einer "christlichen moralischen Mehrheit" zugedeckt wird.
Moral Majority und Rechtsradikale
Numerisch kleiner, aber dennoch keineswegs zu unterschätzen, ist jene schlagkräftige Gruppe von absolut militanten Rechtsradikalen, die im April 1995 mit dem Terroranschlag in Oklahoma City (nur für Nicht-Eingeweihte plötzlich) ans Licht der Weltöffentlichkeit trat.

Während es tatsächlich vollkommen unseriös wäre, diese Gruppe(n) grundsätzlich mit allen Mitgliedern der "moral majority" in Verbindung zu bringen, so bestehen ideologisch und organisatorisch doch allemal Überlappungen, Sympathien und Querverbindungen aller Art.
Armaggedon als göttliche Botschaft
Ähnlich in dem auf dieser Website von Berndt Ostendorf analysierten Roman "The Turner Diaries" von Andrew Macdonald (einem Pseudonym des bekennenden Rechtsradikalen William Pierce) behandelte Pat Robertson in "The End of Age" übrigens seine seit den frühen 1980er Jahren immer wieder vorgebrachte fixe Idee eines im Nahen Osten ausgelösten Armageddon.

Wichtigster Unterschied: in den ungehemmt antisemitischen "Turner Diaries" sind "die Juden" dazu verurteilt, die Bösewichte darzustellen. In "The End of Age" müssen "finstere und dunkle Araber" die Schurken mimen.
->   Berndt Ostendorf: Buch als Vorbild für den Terror?
Einschränkung der Bürgerrechte ...
Jedenfalls entsprechen die angekündigten Suspendierungen der Bürgerrechte in den USA (und bei uns) den innigsten Wünschen vieler Mitglieder der Christian Coalition hüben und drüben ebenso wie den Wunschvorstallungen einer radikalen Minderheit von "Islamisten".
... erster Sieg der fundamentalistischen Internationale
Und es ist ja kein Geheimnis, dass die von der selbsternannten "moral majority" vorgebrachten Dekadenz-Vorwürfe gegenüber einer vermeintlich allzu liberalen US-Gesellschaft (und, selbstverständlich, auch gegenüber dem "amerikanisierten" Europa) strukturell dem Zerrbild vom "Teufel Amerika" mancher "Islamisten" schrecklich nahe kommen, wenn sie ihm nicht ohnehin, spiegelbildlich zur Kenntlichkeit verzerrt, vollkommen entsprechen.
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Der auf dieser Website vor wenigen Tagen vorgestellte Beitrag des deutschen Amerikanisten Berndt Ostendorf "Die Versuchungen der Rache: Die USA und das lex talionis" haben ein außergewöhnlich großes Echo hervorgerufen.
->   Berndt Ostendorf, Die Versuchungen der Rache: Die USA und das lex talionis
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ORF ON Science :  Reinhold Wagnleitner :  Gesellschaft 
 

 
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