Host-Info
Manfried Welan
Institut für Wirtschaft, Politik und Recht, Universität für Bodenkultur Wien
 
ORF ON Science :  Manfried Welan :  Gesellschaft 
 
Demokratie und Verfassung in Österreich  
  Schon seit dem Beitritt zur EU ist auch in Österreich der Staat nicht mehr das, was er einmal war. Die Frage "Sind wir als Mitglied der EU noch ein Staat?" und die Frage "Ist die EU nicht schon ein Staa?t" sind heute wieder aktuell geworden.  
Politisches System im Wandel
Der Parteien- und Verbändestaat hat sich gewandelt. Das politische System von Gestern, das aus zwei Großparteien und den mit ihnen verflochtenen Großverbänden bestand, ist zu Ende.

Die Realverfassung und ihre Konventionen sind augenscheinlich 1999/2000 zerbrochen. Aber das Bundes-Verfassungsgesetz, insbesondere sein politischer Kern ist bestehen geblieben, ja stärker geworden.
Verfassung steht nicht zur Disposition
Das ist die erste These: Durch das Ende der rot-schwarzen Verfassungspartnerschaft 1999/2000 steht die Verfassung nicht mehr zur Disposition von zwei Parteien. Die rechtliche Gewaltenteilung von Verfassungsgesetzgebung und einfacher Gesetzgebung hat sich durchgesetzt. Die Verfassung gewinnt aber auch an Bedeutung, weil Regeln der Konkordanzdemokratie zusammenbrechen.

Die Bildung der Regierung Schüssel-Riess-Passer war im Einklang mit der Verfassung. Aber der Vorgang widersprach der politischen Praxis, die sich in den Jahrzehnten der Zweiten Republik um und über die Verfassung gelegt hatte.

Erstmals wurde nicht der Chef der mandatsstärksten Partei Regierungschef. Erstmals wurde die Regierung ohne direkten Auftrag des Bundespräsidenten gebildet. Die frühere Konvention wurde nicht eingehalten, wohl aber die Konstitution. Der Bundespräsident ernannte die Regierung.
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Die zweite These kann lauten: Die Verfassung verliert an politischer Bedeutung. Das B-VG ist nicht mehr die Verfassung eines souveränen Staates. Der Beitritt zur EU war ein Verzicht auf nationale Souveränität. Im Zweifel hat EU-Recht Vorrang und damit die europäische Verfassung, die es zwar nur in Form eines Vertragswerkes gibt, dem aber die Funktion einer quasi-bundesstaatlichen Verfassung zukommt.
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Gestärkt und geschwächt
So leben wir mit zwei Trends. Der eine, der die Bedeutung des B-VG als Bestimmungsfaktor österreichischer Politik im Verhältnis zu früher verstärkt und der andere Trend, der diese Bedeutung gleichzeitig schwächt.

Diese Trends schließen einander aus. Denn der Bedeutungszuwachs der Verfassung ist primär ein prozeduraler ¿ und der Bedeutungsverlust ist primär ein substantieller.

Die englische Sprache lässt eine bessere Differenzierung zu:
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"Policies" und "Politics"
Die österreichische Verfassung verliert im Bereich der ¿policies¿: Immer mehr politische Inhalte werden auf europäischer Ebene entschieden.

Die Verfassung gewann aber im Bereich von politics: Immer mehr Kompetenzen werden innerösterreichisch vom Parteien- und Verbändestaat und seinen Konventionen freigegeben und sind Sache der Verfassungsorgane, insbesondere der parlamentarischen Mehrheit und der von ihr getragenen Regierung.
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Die Verfassung als Spielregel für die Demokratie bleibt bestehen. Die inhaltliche Bestimmungskraft der Verfassung für die Politik wird vergehen. Sie verliert an Gewicht bei der inhaltlichen Bestimmung österreichischer Politik. Weite Teile der Politik werden mehr oder weniger von der EU bestimmt und nicht in Österreich.
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Europäische Kompetenz
Die europäische Kompetenz wird zunehmen: Europäische Außen- und Sicherheitspolitik drängt der Natur der Sache nach in den Bereich der EU-Zuständigkeit. Mit ihrer Erweiterung wird der Spielraum für mehrstimmige Entscheidungen ausgeweitet werden.
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Die Folgen werden weitere Verluste für die Möglichkeit sein, im Rahmen der österreichischen Verfassung ohne Rücksicht auf die europäische Ebene Politik zu machen. Österreich wird bei dieser Tendenz mehr und mehr vom Mitglied eines Staatenbundes zum Glied eines Quasi-Bundesstaates werden.
Chancen für die Zivilgesellschaft
Österreich ist aus einer vor dreißig Jahren noch lagermäßig fixierten Parteiengesellschaft zu einer pluralistischen Gesellschaft geworden. Eine neue Gesellschaft schlüpfte aus den Eierschalen der alten. Durch die Auflösung der alten Parteien- und Verbändegesellschaft erhält die Zivilgesellschaft neue Entfaltungschancen.
Pluralisierung und Modernisierung
Wir sind ein Volk kleineren Eigentums geworden und bekommen immer mehr ein faltiges Gesicht. Das alte Leben und Lebenlassen hat sich pluralisiert und modernisiert. ¿Seine Majestät, das Ich¿ ist auf den Thron gekommen und wählt Lebensstile sonder Zahl. So zahlreich und unterschiedlich die Lebensstile, so verschieden sind auch die Sprachspiele.

Was ist der Grundkonsens? Sind es die Verfassungen der EU und Österreichs? Haben wir einen Verfassungspatriotismus? Die Diskussion darüber bleibt spannend und aktuell!
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Anton Pelinka, Manfried Welan:
Austria Revisited.
Demokratie und Verfassung in Österreich
WUV-Univ.-Verlag, 2001
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