Host-Info
Anton Zeilinger
Institut für Experimentalphysik, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Anton Zeilinger :  Wissen und Bildung 
 
Lieber Peter Weinberger!  
  Vor der Fortsetzung unseres Briefwechsels: Zuerst meine herzliche Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat seit Deinem letzten Brief. Ich verspreche Besserung!  
Interpretationen der Quantenphysik
Nunmehr haben wir so viele verschiedene Themen angerissen, dass ich vielleicht vorläufig auf eines oder zwei fokussieren möchte. Du weisst, dass mir die Quantenphysik besonders am Herzen liegt.

Zur Interpretationsdebatte der Quantenphysik könnten wir sicherlich einiges sagen. Das allein würde für sich schon den Rahmen sprengen, und ich schlage vor, diesen Punkt zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzugreifen.
Ein "Weltbild" trägt jeder mit sich herum
Wenn Du anregst, den von mir verwendeten Begriff "Weltbild" lieber nicht zu benutzen, dann habe ich mich wohl bei der Verwendung dieses Begriffs nicht klar ausgedrückt. Ich wäre missverstanden worden, wenn man meint, dass ich damit ein - in einer bestimmten Gesellschaft oder womöglich gar für die auf der ganzen Welt Lebenden - gemeinsames Bild meine.

Es ist aber doch sicherlich so, dass jede und jeder von uns ein Weltbild mit sich herumträgt, das aus seinen Erfahrungen sowie den Interaktionen mit anderen entstanden ist.
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Was mich interessiert, sind Fragen wie die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Weltbilder von Individuen, die Ähnlichkeiten von Weltbildern zwischen verschiedenen Kulturen, oder vielleicht nur verschiedenen Ländern, und insbesondere die Änderungen dieser individuellen oder kollektiven Weltbilder über die Zeiten.
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Woher kommen die neuen Ideen?
Dies ist für mich nicht nur an sich interessant, sondern auch von tiefer Bedeutung für unser Tun als Naturwissenschaftler oder als Wissenschaftler allgemein. Eine der wesentlichsten Fragen für mich ist nämlich die, woher neue Ideen herkommen.

Dabei meine ich wieder nicht die Frage der Mechanismen, die dafür verantwortlich sind, dass wir gewisse, von einzelnen ausgedrückte Ideen akzeptieren oder nicht - dass sie sich also "durchsetzen. Dies sind soziale und gesellschaftliche Mechanismen, die auftreten, nachdem eine Idee geboren ist.
Viel interessanter finde ich die Frage, was dafür verantwortlich ist, dass eine bestimmte neue Idee auftritt. Und dass es neue Ideen gibt, ist für mich evident, auch wenn uns Leute immer wieder weismachen wollen, dass keine Idee wirklich neu ist. Dies geschieht oft unter Verwechslung von Vorläufern einer Idee mit dem tatsächlich Neuen.
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Einsteins Einfälle
Ein schönes Beispiel dafür aus der Geschichte der Physik, das auch sehr weit diskutiert wird, ist die Frage, wie Einstein auf seine Spezielle Relativitätstheorie kam.

Auch wenn die wesentlichen Grundgleichungen, wie Zeitdilatation und Lorentz-Kontraktion bereits vor Einstein bekannt waren, ist es seine Idee, dies als eine Konsequenz der Relativität von Zeit und Raum selbst aufzufassen, sozusagen die Trennung aufzugeben zwischen Zeit und Raum an sich und dem, was die entsprechenden Messgeräte zeigen.
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In der Tradition seiner Zeit
Wir wissen heute, dass für Einstein das Mach'sche Prinzip ganz entscheidend war, und dass er natürlich voll in der intellektuellen Tradition seiner Zeit stand. Aber das reicht nicht, um das Entstehen der Idee erklären zu können.

Dies wird wohl nie möglich sein, jedoch sollte es für jeden Naturwissenschaftler von Interesse sein, sich damit auseinanderzusetzen, welche Fragen wohl am ehesten zu wirklich Neuem führen können. Es ist ja dieses Neue, das das eigentlich Interessante ist.
Überraschende Gemeinsamkeiten
Selbstverständlich hast Du Recht, wenn Du implizierst, dass es ein gemeinsames Weltbild aller Menschen und Kulturen nicht gibt. Ich bin sicher missverstanden worden, wenn ich auf diese Weise interpretiert werde. Es sind aber - trotz aller Unterschiede der Weltbilder, die wir haben - man braucht nur an die verschiedenen Schöpfungsmythen denken - doch wieder die große Menge der Gemeinsamkeiten, die verblüffend sind.
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Buddhismus und Naturwissenschaften
So war es etwa für mich bei den Diskussionen mit dem Dalai Lama verblüffend zu sehen, wie konsequent logisch-rational das von ihm vertretene buddhistische Weltbild ist. Ganz anders als das, was oft der Eindruck von Menschen im Westen ist.

So etwa hat er mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass sämtliche Aussagen der buddhistischen Lehre einer naturwissenschaftlichen Prüfung standhalten müssen. Und falls wir Naturwissenschaftler etwas finden, das der buddhistischen Lehre widerspricht, dann, sagt er, muss diese Lehre eben geändert werden.

Neben der verblüffenden Offenheit und Flexibilität dieser Position hat mich die Gemeinsamkeit mit der logisch-analytischen Methodik der Naturwissenschaften sehr beeindruckt.
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Ich vermute, dass die Ansicht, dass Widersprüche zu einer Änderung einer Position führen müssen, etwas ist, das, wenn nicht vielleicht allen, so doch den meisten Kulturen gemeinsam ist.
Vom Thron der Schöpfung verstossen
Ich möchte auch an einem anderen Punkt etwas näher erklären: Wenn ich meine, dass der Mensch vom Thron der Schöpfung verstoßen wurde bzw. sich selbst davon verstoßen hat, so meine ich damit nicht, dass wir ein abgeschlossenes Weltbild haben, oder dass wir eine abgeschlossene Naturwissenschaft haben.

Ich wollte damit lediglich ausdrücken, dass wir Schritt um Schritt in der Geschichte der Naturwissenschaften, und die sind ja im Vergleich zur Menschheitsgeschichte noch sehr sehr jung, den Menschen immer mehr aus der Mitte gerückt haben.
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Kopernikus überzeugte uns, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums liegt, Newton zeigte, dass Himmelsphänomene und Phänomene auf der Erde denselben Naturgesetzen unterworfen sind.

Darwin brachte überzeugende Argumente, dass der Homo Sapiens nur eine der vielen lebenden Species ist, Freud hat uns die Illusion geraubt, wir hätten wenigstens Kontrolle über uns selbst, die moderne Molekularbiologie rückt uns immer mehr in die Nähe komplexer chemischer Maschinen.
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Die Natur des Bewusstseins
Es fragt sich für mich dann, was ist der nächste Schritt: Was ist das nächste Liebgewordene, das wir aufgeben müssen? Oder ist es umgekehrt? Gehört die eine oder andere der oben erwähnten Erkenntnisse auch zu den Dingen, die eines Tages wieder aufzugeben sind?

Persönlich habe ich das Gefühl, dass die Frage der Klärung der Natur des Bewusstseins das Potential hat, hier als neuer "Weltbild-Sprengsatz" zu wirken. Darüber sollten wir aber vielleicht ein anderes Mal sprechen.

Mit lieben Grüßen
Dein Anton
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