Host-Info
Hazel Rosenstrauch
Kulturwissenschaftlerin und Wissenschaftspublizistin, ehem. Redakteurin der Zeitschrift "Gegenworte - Zeitschrift für den Disput über Wissen"
 
ORF ON Science :  Hazel Rosenstrauch :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Umgang mit zu vielem Wissen  
  Um zu erkennen, reduzieren wir. Formeln, Modelle, Zeichnungen oder bildgebende Verfahren sind wissenschaftliche Methoden, um komplexe Vorgänge sichtbar zu machen. Wir reduzieren, indem aus einer Vielzahl von Daten ausgewählt wird, was für eine bestimmte Forschung, eine Konstruktion, eine Untersuchung relevant ist. Jedes Reduzieren aber ist auch ein Weglassen - und der Nutzen oder Verlust dieses Weglassens kann zum Problem werden.  
Reduktion von Komplexität - durch Ausschnitte oder auch Bilder und Metaphern - ist eine bewährte Methode der Wissenschaft und jede Disziplin hat ihre spezifischen Instrumente entwickelt, die innerhalb des Fachs die Verständigung erleichtern.

Manchmal sind diese Kürzel so selbstverständlich, dass über die Differenz zwischen der komplexen Wirklichkeit und den Instrumenten der Wissenschaftler kaum mehr nachgedacht wird.
Komplizierter Transfer
Die - je nach Fach und Kontext - unterschiedlichen Bedeutungen von Wörtern komplizieren den Transfer von einem zum anderen Fach und erst recht von Wissenschaft zu Alltag.

Schon Begriffe wie Modell, komplex, Komplexität sind Beispiele für die Schwierigkeiten, die mit der beschleunigten Durchmischung von Wissenschaft und Lebenswelt einhergehen.
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Beispiel Gen- und Hirnforschung
Vor allem durch die Hirnforschung und die Sequenzierung des Genoms sind in den letzten Jahren neue Fragen nach Zusammenhängen zwischen den - in verschiedenen Fächern thematisierten - biologischen, sozialen, kulturellen "Faktoren" angestoßen worden.
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Bedrängende Probleme von "außen"
Hinzu kommen von "außen" zunehmend bedrängende Probleme, die alltäglichen mit "unwägbaren Risiken" verbundenen Abhängigkeiten von Technologien, die auf komplizierten wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauen und für Laien nicht verständlich sind. Zudem entsteht der Druck, z.B. beim Umgang mit Stammzellen die Grenzen der Forschung politisch regulieren zu müssen oder die Bedeutung wirtschaftlicher Verwertung von Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung.

Und für Forschung wie für Laien zunehmend "komplexer" wird die Wirklichkeit dank der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, die durch immense Rechnerkapazitäten aufscheinen.
Unübersichtlichkeit im Blickpunkt
All das, samt (noch?) undurchschaubaren Wechselwirkungen hat in den letzten Jahren auch neue Strukturen hervorgebracht, in denen wissenschaftliche und praktische Problemlösung aneinander rücken:

Neue Fächer, neue Orte, neue Geldquellen und Kontrollinstanzen sollen die neue Unübersichtlichkeit in den Griff bekommen oder machen sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung.
Interdisziplinarität, Konferenzen, Programme ...
Auch oder gerade Experten wissen, dass ihre Expertise nur für einen kleinen Ausschnitt des Wissens gilt. Was tun?

Man kann möglichst viele Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten zusammenrufen (interdisziplinär), evtl. auch noch Laien ("Bürger") einladen, Brainstormings, Diskussionen, Konferenzen organisieren, immer in der Hoffnung, möglichst alle relevanten Aspekte in den Blick zu bekommen.

Man kann Computerprogramme schreiben, Meta-Suchmaschinen entwickeln oder die Auswahl klug programmierten Agenten überlassen. Überall zeigt sich: Auch der Experte ist nicht Herr im eigenen Haus, er ist es bestenfalls im eigenen Zimmer und wenn er dessen Inventar gut kennt, weiß er noch lange nicht, wieso die Heizung funktioniert.
Die Fragen nach Zusammenhängen
Interdisziplinäre Arbeitsgruppen, neue - kombinierte - Fächer, politisch induzierte Beobachtung und Bewertung und nicht zuletzt Wissenschaftsforschung als reflektierende Begleitung dieser Prozesse setzen sich theoretisch und praktisch mit den Fragen nach Zusammenhängen zwischen lange Zeit mehr und weniger scharf getrennten Bereichen auseinander.
Natur- kontra Geisteswissenschaften?
Wo es, selten genug, zu Kooperationen kommt, entdecken Natur- und Geisteswissenschaftler, dass sie - auch in ihren Unsicherheiten - vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt sind, wie es die Glaubenskriege des vorigen Jahrhunderts ("science wars") suggerierten.
Der Verlauf der Grenze
Die Grenze verläuft derzeit weniger zwischen Natur- und Kulturwissenschaftlern, als zwischen denen, die am modernen Wissenschaftsverständnis, seinen Vorstellungen von Machbarkeit und Ratio und nicht zuletzt der orientierenden Rolle der Wissenschaften festhalten und solchen, die den Zweifel hegen - am Objektivitätsideal der Naturwissenschaften, an den eindeutigen Trennungen, an der konsistenten Forschungslogik und an der durch Wissenschaft abgesicherten Beherrschbarkeit.
Das Bewusstsein vom Nicht-Wissen
Inzwischen gehört zu den wichtigsten Fragen nicht nur, ob Umwelt oder Physis, Kultur oder Biologie unser Handeln bestimmen, sondern auch, was die Wissenschaft nicht sieht, wie ausgeprägt das Bewusstsein von Nicht-Wissen und vom Weggelassenen ist.
Theoretische und mentale Gräben
Theoretische, aber auch mentale Gräben trennen derzeit vor allem jene (Forschern wie Laien), die meinen, man könne - z.B. mittels Komplexitätsforschung, durch das Sammeln aller relevanten Indikatoren, mithilfe schärferer Begrifflichkeit, genauerer Instrumente oder umfassender Theorien - den großen Zusammenhang erkennen, und denen, die daran zweifeln oder gar darauf bestehen, wir müssten lernen, mit Unsicherheit und Nichtwissen umzugehen.

Der Einsicht in die Notwendigkeit, über diese Grenzen nachzudenken (in den einzelnen Disziplinen und in einer wissenschaftspolitisch interessierten Öffentlichkeit) ist noch nicht weit gediehen und vor allem stehen dieser Einsicht die pragmatischen Erwägungen entgegen.

Wer will schon den Ruf fördern, er wüsste nicht alles oder könnte es nicht zumindest bald herausfinden.
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Neu erschienen: Gegenworte Heft 13
Im gerade erschienenen Heft 13 der Gegenworte - getitelt mit "Die Reduktion frisst ihre Kinder. Zum Umgang mit komplexen Themen" - setzen sich Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen mit den Möglichkeiten und Grenzen von Reduktion in der Wissenschaft auseinander.

Gegenworte wird von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben. Die zweimal jährlich erscheinenden Hefte für den Disput über Wissen haben sich die Aufgabe gestellt, das Gespräch über die Kontexte der Wissenserzeugung zu stimulieren.
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