Host-Info
Hazel Rosenstrauch
Kulturwissenschaftlerin und Wissenschaftspublizistin, ehem. Redakteurin der Zeitschrift "Gegenworte - Zeitschrift für den Disput über Wissen"
 
ORF ON Science :  Hazel Rosenstrauch :  Wissen und Bildung .  Gesellschaft 
 
Zur Nomadisierung der Wissenschaft  
  Dass Wissenschaftler nicht mehr im Elfenbeinturm sitzen, ist mittlerweile (wenn auch erst seit kurzem) trivial. Aus Gewohnheit mag man bei "Orten der Wissenschaft" noch an Seminarräume, Bibliotheken, Labortische oder gar Wandelgänge denken.  
Jeder, der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kennt, weiß, dass die Nomadisierung in dieser Berufsgruppe einen besonders hohen Grad erreicht hat. Wissenschaftler sind Virtuosen im Umgang mit Ortlosigkeit.

Die Fliehkräfte treiben sie rund um den Globus, E-Mail oder Konferenzschaltungen erleichtern den immer noch an ihre Physis gebundenen Vortragenden, an mehreren Orten gleichzeitig präsent zu sein, manche führen Ehen und Liebesbeziehungen quer über Städte und Länder.
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"Gegenworte - Hefte für den Disput über Wissen"
Der Text von Hazel Rosenstrauch stammt aus dem 16. und voraussichtlich letzten Heft der "Gegenworte - Hefte für den Disput über Wissen", das sich diesmal mit den "Orten der Wissenschaft" beschäftigt. U.a. erzählt darin der Mathematiker Günter M. Ziegler, wo Mathematik entsteht, der Biochemiker Ferdinand Hucho berichtet aus Moskau und Reinhard Kurth schreibt über Vogelgrippe und Politikberatung. Soraya de Chadarevian erinnert an Asilomar, Aleida Assmann an die Zeit vor der E-Mail und Michael Hagner räsoniert über das Jenseits.

Leseproben und die Inhaltsverzeichnisse der bisher erschienenen Nummern:
->   Gegenworte
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Wissenschaft fördert Umtriebigkeit
Durch Wissenschaft möglich gewordene Innovationen befördern die Umtriebigkeit und sie erleichtern den Umgang mit ihr. Es gibt noch Dozenten, die ins Institut "gehen", zunehmend häufig benutzen sie das Flugzeug oder den ICE, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen.

Den Weg in die Bibliothek kann man sich dank Download ersparen, aufgeweckte Studierende schaffen zwei bis drei Auslandsaufenthalte während ihrer Ausbildung. Wo die Zahl der Bewerber zu hoch ist, entdecken die Universitäten das Distant-learning.

Der operierende Arzt starrt auf den Bildschirm, Experimente werden von Instrumenten abgelesen, die mehr sehen, als das freie Auge.
Pilgerreisen statt Zugehörigkeit
Derzeit pilgern die Präsidenten, Institutsvorstände und Forscher, die den Anschluss nicht verpassen wollen, nach Ostasien.

Es wird globalisiert und verclustert, ökonomisiert und gewetteifert, hier und noch viel stärker dort, wo kürzlich noch eine "Dritte Welt" war, die sich anschickt - zumindest was die Investitionen in Wissenschaft betrifft - an die erste Stelle zu rücken.

Die Bindung an einen Ort, sagen wir Heidelberg oder Oxford, und selbst die Zugehörigkeit zu einer Disziplin werden immer unwichtiger, zugleich verwenden die hurtigen Wissenschaftler quer über den Globus die gleiche Software; der Empfänger wichtiger Resultate weiß oft nicht, ob sein Kollege nebenan oder 3.000 Kilometer weit weg sitzt.
Viel Kommunikation, wenig Gespräch
Orte verschwinden - und sie gewinnen an Bedeutung. Es gibt viel Kommunikation und wenig Gespräch, weshalb Angehörige der wissenschaftlichen Oberschicht sich um fellowships an besonders hübschen, komfortablen Instituten bewerben.

Dort wird auf das Ambiente und eine konservative Kultur großer Wert gelegt; sie treffen Kollegen aus anderen Fächern im kleinen Kreis, was nicht ausschließt, dass sie auch auf den Fachtagungen mit 3.000 bis 5000 Teilnehmern präsent sind.
Günther Anders weiter gültig?
Was passiert da? Können die Angehörigen der scientific community mit dem Tempo noch mithalten, oder gilt sinngemäß, was Günther Anders in den 1950er Jahren über das Verhältnis zwischen rascher technischer und langsamer moralischer Entwicklung gesagt hat?

Könnte es sein, dass die Verfertigung von Gedanken, die intellektuelle Verarbeitung mit all den Innovationen effizienter Kommunikation nicht mithalten kann?

[14.12.05]
->   Zum 100. Geburtstag von Günther Anders (11.7.02)
->   Alle Beiträge von Hazel Rosenstrauch in science.ORF.at
 
 
 
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