Host-Info
Hazel Rosenstrauch
Kulturwissenschaftlerin und Wissenschaftspublizistin, ehem. Redakteurin der Zeitschrift "Gegenworte - Zeitschrift für den Disput über Wissen"
 
ORF ON Science :  Hazel Rosenstrauch :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft 
 
Freud war darauf vorbereitet, in Opposition zu gehen  
  Zu den Freud-feierlich besonders beliebten Zitaten gehört: "Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der kompakten Majorität zu verzichten."  
Das Zitat wird immer dann benutzt, wenn es um Freuds Jüdischkeit geht, nach seinem Selbstverständnis war er atheistisch, assimiliert, deutsch bzw. österreichisch-bürgerlich.
Gehört, als es noch kompakte Majoritäten gab
Texte, auch Zitate, werden, wie wir aufgrund diverser Rezeptionstheorien wissen, nicht nur von den Autoren geschrieben, sondern von den Empfängern mitgeschrieben, sie verändern ihre Bedeutung je nach Zeit und Milieu.

Ich habe diesen Satz vor etwa 25 Jahren von einer Freundin gehört, die nie viel Aufhebens über ihre jüdische Herkunft machte und nie zur kompakten Majorität gehört hat. Damals, Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre war - in Österreich - die jüdische Herkunft noch ein guter Grund, nicht zur kompakten Majorität zu gehören. Es gab eine Opposition und es gab kompakte Majoritäten.

Als Freud den Satz schrieb, waren die mitteleuropäischen Juden noch nicht ausgerottet. Es gab viele Juden, viele unterschiedliche Arten von Juden, es gab assimilierte, bürgerliche, deutschsprachige und gut integrierte (zumindest dachten sie, sie wären gut integriert) mehr und weniger patriotische 'unjüdische Juden'. Das ist heute bekanntlich anders.
"Abweichung" heute eher ein Markenartikel
Jüdisch zu sein ist keine Garantie gegen Vorurteile (war es auch zu Freuds Zeiten nicht, aber der Antisemitismus in jenen Zeiten, als Freud gemobbt wurde, war sicher eine gute Schule, um sich mit Klischees und Vorurteilen auseinander setzen zu müssen).

Was Majorität ist, lässt sich in Zeiten, in denen "Einvernehmen" durch - schnell wechselnde - Etiketten oder Logos demonstriert wird, schwer beschreiben.

Ich überlege, wie man das Zitat adaptieren kann, wenn jede Abweichung und jedes Signal von Nicht-Zugehörigkeit flugs zum geilen Markenartikel wird, auf Werbeflächen erscheint ... schneller, als die anders-sein-wollende Jugend ihre Ideen durchs Internet gejagt hat?
Juden sind nicht mehr "das Andere"
Wie beneidenswert einfach erscheint heute diese Möglichkeit, sich gegen Vorurteile und Beschränkungen des Intellekts zu immunisieren.

Juden als Opposition und Inbegriff des Anderen findet man inzwischen hauptsächlich in Ausstellungen, Filmen und Büchern oder in soziologischen, historischen, ethnologischen Doktorarbeiten.

Manche der für das heutige Deutschland statistisch so notwendigen Juden, wenn sie aus Russland oder gar Rumänien gekommen sind, gehören (noch) nicht dazu, viele sind - wie übrigens auch zu Freuds Zeiten - überangepasst, wie Migranten überall.
Lebendiger Beweis für die Aussöhnung
Die wenigen, die sich als 'authentische' jüdische Restbestände in Deutschland gehalten haben/gehalten wurden, z.B. weil ihre Eltern als Displaced Persons in München oder Frankfurt hängen geblieben sind oder weil sie voller Illusionen freiwillig nach Österreich zurückkamen, bekommen gelegentlich einen authentischen Platz zugewiesen: Sie leiten jüdische Museen und jüdische Studien, bedienen den Markt für - keineswegs nur deutsche - Identitätssuchbewegungen und haben feste Plätze in Verlagen und politischer Bildungsarbeit.

Ghettos, wie der Sport oder Jazz für die Schwarzen. Den Nachfahren derer, die so lange das Symbol für Fremdes waren, fällt heute eine ganz andere Rolle zu, sie gelten als lebendiger Beweis für Aussöhnung - Toleranz - Demokratie.
Drei Versuche, das Freud-Zitat zu aktualisieren
Welche Bedeutung, wenn sie nicht nostalgisch ist, kann dieses Zitat noch haben? Vorschlag Nr. 1 für eine Forschungsfrage: Was schützt in Zeiten, in denen keiner mehr zugehörig, beheimatet, geborgen ist (oder sich fühlt), vor Opportunismus und der Einschränkung des Intellekts?

Forschungsfrage 2 mit Blick auf Wissenschafts-Marketing: was kann berühmte Forscher heute am Einvernehmen mit der kompakten Majorität schützen?

Frage Nr. 3: Ist die Idee der Abgrenzung gegen die kompakte Majorität überhaupt noch positiv besetzt?

[28.4.06]
->   Freud-Jahr 2006 in Radio Österreich 1
Aktuelles zum Freud-Jahr 2006 in science.ORF.at:
->   K. Lebersorger: Von Sigmund Freud zu den "Super Nannys" (21.4.06)
->   Ausstellung und Buch: Karikaturen über Freud (14.4.06)
->   Wesensverwandt: Psychoanalyse und Demokratie (7.4.06)
->   J.C. Aigner: Die vergessene Kulturkritik der Psychoanalyse (31.3.06)
->   Archiv zum 150. Geburtstag von Sigmund Freud
 
 
 
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