Host-Info
Hazel Rosenstrauch
Kulturwissenschaftlerin und Wissenschaftspublizistin, ehem. Redakteurin der Zeitschrift "Gegenworte - Zeitschrift für den Disput über Wissen"
 
ORF ON Science :  Hazel Rosenstrauch :  Wissen und Bildung 
 
Der Streit um die zwei Kulturen  
  Der Gedanke, dass Natur- und Geisteswissenschaften auf verschiedenen Instrumenten recht unterschiedliche Melodien spielen, ist fast so alt wie jene Gelehrtengesellschaften, aus denen Akademien und Universitäten der Moderne hervorgegangen sind.  
Definitionskriege
Die Umgangsformen variierten je nach Zeit, Ort und Disziplin. Das angelsächsische Wissenschaftssystem anerkennt ohnehin nur die Naturwissenschaften als "Science" und rechnet das, was in Deutschland Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften heißt, zu den "Humanities".
Trennlinien zwischen 'Sciences' und "Humanities"
Die aktuellen Debatten über die Wahrheit(en) in Natur- und Geisteswissenschaften lassen sich nicht auf einen Begriff bringen, sie werden aus mehreren Quellen gespeist. Je nach wissenschaftlicher Heimat der Protagonisten werden die ¿Definitionskriege¿ (Mittelstraß) und mögliche Lösungen des Problems historisch, sozial oder auch ideologisch und ökonomisch interpretiert, wobei die Trennlinien keineswegs nur zwischen harten ¿Sciences¿ und weichen ¿Humanities¿ verlaufen.
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Wichtige Referenzpunkte für die Auseinandersetzungen nach dem 2. Weltkrieg waren Snows 1956 erschienener Aufsatz über zwei einander ignorierende und durch die Trennung verarmte Kulturen und Wolf Lepenies Hinweis auf eine zwischen Literatur und Exaktheit oszillierende "dritte", sozialwissenschaftliche Kultur. Zuletzt bis in die Feuilletons vorgedrungen ist der Streit, der nicht nur um den Stein der Weisen, sondern auch um Ressourcen geführt wird, in Form des so genannten "Science war".
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Protagonisten, Fronten, Erklärungsmuster
Debatten wie die über "Science wars" werden primär in den Medien, bestenfalls auf Fluren geführt, und innerhalb der Scientific communities gibt es auch kaum Orte für derlei Auseinandersetzungen.

Befremdend ist für Naturforscher vor allem die einerseits wissenschaftshistorische, andererseits postmoderne Auflösung des Objektivitätsbegriffs. Abgesehen von den unterschiedlichen Blickwinkeln, Sprachen und Argumentationsweisen dürften die Missverständnisse nicht zuletzt daher rühren, dass die jeweiligen Vertreter eher gegen- oder aneinander vorbei, als miteinander argumentieren.
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Schon Snow hatte darauf hingewiesen, dass die kaum mehr übersetzbaren Sprachen und Wahrnehmungen von Natur- und Geisteswissenschaftlern auch eine Folge der erodierenden Kultur sind, die Auseinandersetzungen sind eingebettet in eine Auflösung verbindlicher, gemeinsamer Wertorientierungen in allen Lebensbereichen.

Jene Kohäsion der Scientific community, die durch Geselligkeitsformen alter Herren oder eine kanonisierte Bildung gewährleistet wurde, ist mit der quantitativen Ausweitung des Wissenschaftsbetriebs, der immer feineren Spezialisierung und der Demokratisierung der höheren Bildung verschwunden.
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Autoritäten im Zwielicht
Gemeinsam ist der geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Intelligenz, dass im Laufe dieses Prozesses ihre unbezweifelte Autorität erschüttert wurde.
Ein schlichter und nicht unerheblicher Kern der Auseinandersetzungen um Objektivität und Relativismus ist der wachsende Einfluss der Naturwissenschaft und die schwindende Bedeutung der Geisteswissenschaft.

Zugleich entwickeln sich derzeit neue Formen von Belehrung und Unterhaltung, werden die Naturwissenschaften in Ausstellungen, auf Wissenschaftsmessen, in Shows, Filmen und auf der Bühne statt oder als Kunst der Öffentlichkeit nahe gebracht.
Wissenschaftler: Schlechte Interpreten ihres Tuns?
Die Diskussion um Philosophie oder Technik, Machen versus Nachdenken, Wahrheit oder Erfolg mag nicht zuletzt auch eine europäisch-amerikanische Facette beinhalten; sie wird weiter verkompliziert dadurch, dass Wissenschaftler (wie Künstler) offenkundig schlechte Interpreten ihres eigenen Tuns sind.

Vor allem die Naturwissenschaften versuchen mit multimedialen Geschützen, das Misstrauen der Laien zu zerstreuen.

Das Vertrauen in den einst mit hohem Ansehen verbundenen Beruf war schon durch die Beteiligung zahlreicher Vertreter der Wissenschaft an der Entwicklung von Waffen und an medizinischen Experimenten im 1. und 2. Weltkrieg (Giftgas, Atombombe) erschüttert; Katastrophen, Umweltprobleme und Frankenstein-Phantasien haben die Skepsis gegenüber Wissenschaft und Wissenschaftlern allerdings nur beschleunigt, die Entwicklung von einer ¿Berufung¿ zum ¿Job¿ hatte schon vorher eingesetzt.
Grenzüberschreitungen
In die aktuelle Debatte über das Verhältnis von Natur- und Kulturwissenschaft mischen sich so gleichsam alle relevanten Fragen, die auf irgendeine Weise mit Wissenschaft und ihrer Interpretation der Wirklichkeit in Verbindung gebracht werden.

Es geht ums Ganze: um den Umgang mit Natur, um die Würde des Menschen, um die Verteilung von Geldern und um die Wahrheit sowieso.

Gleichzeitig werden traditionelle Felder der Kulturwissenschaften von Hirnforschern und Gentechnikern besetzt. Die Genomforschung schickt sich an, die Grundfragen der Existenz nach dem ¿woher¿ und ¿wohin¿ neu zu beantworten.
Über den Tellerrand schauen!
Zwischen den großformatigen Debatten um Forscherneugier oder Sinnfrage werden, nicht zuletzt aufgrund der in wörtlichem Sinne unfassbaren Zunahme des Wissens und seiner Produzenten, Terrainkämpfe ausgefochten, die gewiss nicht nur mit rationalen Mitteln geführt werden und Grenzüberschreitungen erschweren.

Die akuten Probleme, die Absurdität so mancher Abspaltung von Fachgebieten oder die Einseitigkeit von Spezialisten würden kontinuierlichen Austausch erfordern, die bestehenden Strukturen jedoch bestrafen Wissenschaftler, die über den Tellerrand ihres Fachgebiets schauen.
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Gegenworte

Zeitschrift für Disput über Wissen.

Natur und/versus Geisteswissenschaften.
Scharmützel und Annäherungen

6. Heft

Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
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ORF ON Science :  Hazel Rosenstrauch :  Wissen und Bildung 
 

 
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