Host-Info
Hazel Rosenstrauch
Kulturwissenschaftlerin und Wissenschaftspublizistin, ehem. Redakteurin der Zeitschrift "Gegenworte - Zeitschrift für den Disput über Wissen"
 
ORF ON Science :  Hazel Rosenstrauch :  Wissen und Bildung 
 
Wissenschaft im Umbruch: Ein neuer Gesellschaftsvertrag?  
  Seit einiger Zeit wird über neue Formen des Umgangs mit Wissen innerhalb und außerhalb traditioneller Institutionen nachgedacht. Das Verhältnis von Wissenschaft und den "anderen Segmenten der Gesellschaft" - Politik, Wirtschaft, Medien oder (organisierten und nicht organisierten) "Laien" - befindet sich im Umbruch: ob man die Entwicklung zu 'Big Science' mit ihren großen und vor allem teuren Forschungsorganisationen ins Auge fasst oder eine Wissenschaftsskepsis, die mit den Folgen des technischen Fortschritts und der Abhängigkeit davon wächst.  
Keine alleinige Autorität der Wissenschaft
Die alleinige Autorität der Wissenschaft gilt auch in Wissensfragen in vielen Bereichen nicht mehr oder sie wird nicht mehr anerkannt (was letztlich auf das gleiche hinausläuft). Die Forderungen nach Dialog, Partizipation, Legitimation, Transparenz, Verantwortungsbewusstsein und Demokratisierung von Wissen(schaft) oder nach einer "Forschung für die Gesellschaft" folgen der Einsicht, dass Wissen in der so genannten Wissensgesellschaft die wichtigste Ressource der Zukunft ist.
Von 'Push' zu 'sis'
"Wissenschaft in der Gesellschaft" (im EU-Slang: 'sis' wie science in society), "Demokratisierung der Wissenschaft", "Neuer Gesellschaftsvertrag" meint nicht das selbe und auch nicht das gleiche wie 'PUSH', jenes Kürzel, unter dem der Weg der Wissenschaft in die Öffentlichkeit in den letzten Jahren forciert wurde.
Verschiebung des Stellenwerts von Wissenschaft
Es geht zwar um "Dialog", aber die - wie üblich aus dem angelsächsischen Bereich kommenden - Catchwords bezeichnen mehr, nämlich eine vielschichtige Verschiebung des Stellenwerts von Wissenschaft im gesamtgesellschaftlichen Gefüge. Dieser Prozess ist längst im Gange und lässt sich mit Popularisierung von Wissenschaft allein sicher nicht steuern.

Die Events, mit denen neuerdings für Naturwissenschaften geworben wird, werben für eine Wissenschaft, die sich ihrer selbst keineswegs so gewiss ist, wie die gläsernen Labors und TV-Shows suggerieren.
Verantwortung wächst
Wissenschaft war lange Zeit, ziemlich genau drei Jahrhunderte lang, weitgehend von den Vergesellschaftungsprozessen ausgeschlossen. Dieses Privileg der fraglos alimentierten Tätigkeit, deren Beurteilung allein den Fachleuten überlassen bleibt, wird nicht mehr fraglos akzeptiert.

Dass man Wissenschaft (so wenig wie Kunst) nicht demokratisch betreiben kann, ist ein Gemeinplatz, er eignet sich als Abwehr von Zumutungen, verdeckt aber auch, dass es den heutigen Verhältnissen nicht mehr gemäß ist, wenn Wissenschaftler tun, was ihnen ihr freier Forschungsdrang eingibt.

Die Verantwortung der Wissenschaftler wächst, mit ihr wachsen auch die Bedenken, ob die (trotz aller Gleichberechtigungsrhetorik noch immer vorwiegend männlichen) Wissenschaftler dafür ausgerüstet sind, diese Verantwortung zu tragen.
Frage nach der Legitimation
Nicht die Weisen des Landes, sondern die Probleme drängen auf Lösungen. Da nicht mehr der König, sondern der Steuerzahler den größten Teil der Grundlagenforschung finanziert, stellt sich - lauter als in Zeiten voller Kassen - die Frage nach der Legitimation dieser oder jener Forschungen und nach der Vertretung gesellschaftlicher Interessen.
Prestige der Professoren sinkt
Politiker müssen Entscheidungen über Projekte fällen, die nicht nur ein Vermögen kosten, sondern deren Folgen auch weit in die Zukunft reichen, dafür brauchen sie die Entscheidungshilfe von Experten. Deutungsmacht und Privilegien der Wissenschaft werden schon lange als problematisch empfunden, das Prestige der Professoren sinkt, seit jeder weiß, dass sich Experten für jede gewünschte Entscheidung finden lassen und Ethik nicht funktioniert, wenn sie nicht geregelt wird.
Spagat zwischen Repräsentation und Wirtschaft
Die Wirtschaft sorgt sich um Konkurrenzfähigkeit auf dem internationalen (Wissens)Markt; die Politik muss den Spagat meistern zwischen Repräsentation gesellschaftlicher und Vertretung wirtschaftspolitischer Interessen. In einem demokratischen System müssen, sagen z.B. NGOs oder Patienteninitiativen, alle Bürger/innen Zugang zu dem Wissensschatz erhalten.

Sie sollen - das meint der (wiederum von den Angelsachsen in die Debatte geworfene) Begriff Scientific Citizenship, der die Debatte um 'PUSH' abgelöst hat - befähigt werden, mit Wissen verantwortungsvoll umzugehen; sie wollen bei Entscheidungsprozessen über neue Forschungsfelder und weitere technische Anwendungsgebiete bzw. -folgen einbezogen werden.

Diverse Foren bürgerschaftlichen Engagements verhandeln etwa auf Konsensuskonferenzen und drängen auf eine stärkere Berücksichtigung ihrer Perspektiven bei Forschung und Heilungsmethoden oder stellen selbst Wissen verständlich und kostenlos zur Verfügung.
Suche nach "neuem Gesellschaftsvertrag"
Es gibt also viele Akteure und Interessen, die von den Veränderungen betroffen sind, aber es gibt zwischen den verschiedenen Akteuren und Interessensgruppen kaum einen Austausch, weder eine gemeinsame Sprache noch einen (kleinsten) gemeinsamen Nenner, um die Richtung der Umgestaltung in einem "Dialog" zu klären oder gar einen "neuen Gesellschaftsvertrag" auszuhandeln.

Aus der Wissenschaft selbst sind unterschiedliche Stimmen zu vernehmen, eine interdisziplinäre oder gar öffentliche Debatte dazu gibt es nicht. Die Analysen und Vorschläge werden im weitgehend geschlossenen Kreis der Wissenschaftsforscher und -politiker unter gelegentlicher Hinzuziehung von Fachfremden diskutiert und bleiben vorerst folgenlos.
Veränderungen hinter dem Rücken der Beteiligten
Bisher waren es meist Irrtümer und Katastrophen (Atomkraft, Genmais, Klima) die das Interesse an einer öffentlichen Debatte über die Rolle der Wissenschaft, ihre Folgen, die Verantwortlichkeiten geweckt haben. Inzwischen kommt die Kritik, kommen Nachfragen und Bedenken auch aus der Wissenschaft selbst.

In der Hauptsache aber setzt sich die Auflösung der alten Ordnung hinter dem Rücken der Beteiligten durch, qua Mittelkürzungen und Verschiebungen in dem komplexen Gefüge mit unterschiedlichen Interessen und Mitspielern.
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GEGENWORTE
Hefte für den Disput über Wissen, Ausgabe 11, Sommer 2003
Vom Rang ins Parkett. Veränderte Verhältnisse zwischen Wissenschaft und Gesellschaft
Demokratie? Neuer Gesellschaftsvertrag? Wissenschaftlerinnen als Politikberater und/oder Mäzene und Sponsoren statt Staat? Wie steht es mit den Frauen und was heißt Repräsentation? Aus unterschiedlichen Blickwinkeln werden die Erfordernisse und Kontexte einer Umgestaltung der schwierigen Beziehung zwischen Forschung und Anwendung, Expertise und Mitbestimmungswunsch erwogen und kommentiert.
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