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Philipp Steger
Office of Science& Technology
Austrian Embassy, Washington
 
ORF ON Science :  Philipp Steger :  Wissen und Bildung 
 
Das Dilemma der Wissenschaft  
  Im Gefolge der Terroranschläge vom 11. September offenbaren sich die Kosten eines populären Mythos: die Wissenschaft, verlässliche Helferin, produziert eindeutige Lösungen und unumstößliche Wahrheiten. Doch die Wissenschaft befindet sich in einem Dilemma, unrealistische Erwartungshaltungen drohen ihre eigentlichen Aufgaben unmöglich zu machen: kritische Analyse sowie wissenschaftliche Ausgewogenheit und Besonnenheit.  
Die Wissenschaft als verläßliche Produzentin eindeutiger Lösungen und unumstößlicher Wahrheiten - Die Kosten eines Mythos
In einer vor kurzem veröffentlichten Erklärung zeigte sich die amerikanische Akademie der Wissenschaften über die Unmenge an unzutreffender oder gar falscher, in der Öffentlichkeit zirkulierter Information über Anthrax und sonstige terroristische Bedrohungsszenarien besorgt. Die Akademie versuchte mit ihrer Erklärung, der Wissenschaft als Stimme der Vernunft und Besonnenheit Gehör zu verschaffen.
->   Erklärung der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften
Die Stimme der Wissenschaft
Während dies bereits in "besseren" Zeiten kein leichtes Unterfangen war, wird dies dann, wenn in einer Gesellschaft irrationale Ängste und reflexartige Reaktionen die Oberhand gewinnen, beinahe zum Ding der Unmöglichkeit: wie kann sich die Stimme der Wissenschaft Gehör verschaffen, wenn ihre Nachricht nicht das allgemeine Bedürfnis nach einfachen und raschen Lösungen befriedigen kann?

Wie kann sie komplexe Szenarien mit der gebotenen Sorgfalt analysieren, wenn simple Antworten auf scheinbar einfache Fragen erwünscht sind? Die Frage ist deshalb von so großer Dringlichkeit, weil gerade jetzt der Bedarf nach wissenschaftlicher Ausgewogenheit und kritischer Analyse am größten ist.
Das Dilemma der Wissenschaft
Der Umstand, dass politische Entscheidungen nur selten auf der Grundlage wissenschaftlich fundierter Informationen getroffen werden, ist jedoch nur eines von vielen Problemen, mit denen sich die Wissenschaft nach dem 11. September verstärkt konfrontiert sieht. Im Gefolge der Terroranschläge offenbaren sich die Kosten eines populären Mythos: die Wissenschaft, verläßliche Helferin, produziert eindeutige Lösungen und unumstößliche Wahrheiten! Schlimm genug, dass die Wissenschaft diesen Mythos nicht schon längst vehement als Wunschdenken entlarvt hat. Noch schlimmer ist, dass selbst in der Wissenschaft manche den Mythos eifrig nähren, solange er ihrer spezifischen Disziplin zum Vorteil gereicht.

Die Wissenschaft befindet sich in einem Dilemma: unrealistische Erwartungshaltungen drohen die eigentlichen Aufgaben der Wissenschaft unmöglich zu machen. Einerseits deshalb, weil die weitere Bestärkung unrealistischer Erwartungen an das, was Wissenschaft zu leisten imstande ist, zwangsläufig zu Enttäuschung und daher zu Mißtrauen führen werden. Andererseits deshalb, weil der Zeitpunkt für die Verkündung der Wahrheit, dass viele der Probleme wesentlich komplexer sind und die Lösung mehr Zeit als allgemein angenommen in Anspruch nehmen wird, denkbar ungünstig ist.
Der Mythos und die Naturwissenschaften
Ein Beispiel dafür sind die Reaktionen auf das durch die rezenten Ereignisse verstärkt ins allgemeine Bewußtsein getretene Bioterrorismus-Szenario: die Wissenschaft als Lieferantin eindeutiger Lösungen und unumstößlicher Wahrheiten.

Dieser Glaube hält sich so hartnäckig, dass selbst Wissenschafter, die es eigentlich besser wissen sollten, der Versuchung erliegen, die Ergebnisse ihrer Forschung als absolute Erkenntnis zu präsentieren: wissenschaftliche Erkenntnisse werden mit absoluter Wahrheit gleichgesetzt. Und allzu oft wird dann denjenigen, die dies anzuzweifeln wagen, Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen.

Bisher sind in den USA vier durch Milzbrand verursachte Todesfälle bekannt. Dies hat unter anderem zum Ruf nach einem Impfstoff gegen die Krankheit geführt. Nicht nur, dass mehr Geld in die relevante Forschung umgeleitet werden soll, wird nun gefordert, die üblichen, verhältnismäßig strengen Zulassungsvorschriften der Food and Drug Administration (FDA) in diesem Fall aufzulockern.

Die Biotechnology Industry Organization etwa sieht nun die Chance, einen seit langer Zeit gehegten Wunsch, nämlich ein die Haftung für Nebenwirkungen bei Impfstoffen für Kinder beschränkendes Gesetz auch auf Impfstoffe für Erwachsene ausdehnen zu lassen.

Beide Ansätze, das plötzliche Umdirigieren von Forschungsgeldern - nachdem die Gefahr seit Jahrzehnten bekannt war - und die Auflockerung von Zulassungsvorschriften, sind wissenschaftlich nicht gerechtfertigt, lassen sich aber - indem man Wissenschafter präsentiert, die genau das sagen - leicht als wissenschaftlich fundiert verkaufen. Das kann nur deshalb funktionieren, weil Unverständnis vom Wesen wissenschaftlicher Arbeit weitverbreitet ist.
Religiös anmutender Glaube ersetzt kritische Auseinandersetzung
Wenn es sich um "gew¿hnliche" Krankheiten handelt, also nicht um solche, die laut Medien durch "terroristische Killerviren" ausgel¿st wurden, herrscht in der Regel ein anderes Problem. Bei statistisch h¿igeren und t¿dlicheren epidemischen Krankheiten - wie etwa der Influenza, an der in den USA j¿lich 20.000 Personen sterben - besteht ob der kolportierten Nebenwirkungen von Impfstoffen sogar innerhalb der Risikogruppen wenig Bereitschaft, sich impfen zu lassen.

Beide F¿e, der panikartige "Run" auf Impfstoffe und der Verzicht auf die Impfung wegen kolportierter Nebenwirkungen, spiegeln eine profunde Unkenntnis des Wissenschaftsbetriebes oder zumindest ein eklatantes Desinteresse wider: Das prim¿ Interesse gilt dem Produkt, nicht dem dahinter stehenden Proze¿Ist die subjektive Einsch¿ung einer Infektionsgefahr gro¿und kann die Wissenschaft nicht sofort liefern, macht sich Ungeduld breit. Ungeduld, die auch nicht dadurch gelindert wird, dass Beh¿rden wie die FDA eine Reihe offener Fragen, wie jene nach Nebenwirkungen, beantwortet haben wollen. Wird das Risiko einer Infektion subjektiv als gering empfunden und gibt es bereits einen Impfstoff, werden die Bedenken bez¿glich Nebenwirkungen wach und auf die Impfung wird dann oft verzichtet.

In beiden Szenarien werden in Wirklichkeit nicht wissenschaftliche Argumente gegeneinander abgewogen, sondern wird Wissenschaftern bisweilen religi¿s anmutender Glaube geschenkt. Im Zuge einer h¿chst selektiven Wahrnehmung wird den Wissenschaftern geglaubt, deren Aussage am ehesten der eigenen, oft intuitiven Neigung entspricht: Wird die Impfung als essentiell gesehen, dann ist wissenschaftlich, was der Experte sagt, der die Nebenwirkungen leugnet oder in den Bereich der statistischen Irrelevanz abtut.

Oder es wird akzeptiert, dass Wissenschafter die ihnen eigentlich nicht zukommende Aufgabe der Interessenabw¿ng ¿bernehmen - bzw. dazu gen¿tigt werden - und Stellungnahmen abgeben wie "1000 F¿e, in denen die Schutzimpfung die Krankheit verhindern, rechtfertigen einen durch Impfstoff-Nebenwirkungen verursachten Todesfall". Wird die Impfung aber mangels aktuellen Bedrohungsszenarien subjektiv als entbehrlich empfunden, dann ist wissenschaftlich, was der die Nebenwirkungen anprangernde Experte sagt.
->   Artikel zum Thema Anthrax und Impfungen im San Francisco Chronicle
Die Alternative
Die Alternative ist zwar nicht unbedingt jedermanns Sache, aber es gibt sie und sie ist theoretisch allen zugänglich: der Versuch, die vorgebrachten Argumente in ihrem wissenschaftlichen Kontext zu verstehen, und diese Argumente gegeneinander abzuwägen.

Dies fordert nicht nur den Laien, sondern auch die Wissenschafter, ihre wissenschaftliche Tätigkeit in einer für Laien verständlichen Weise zu kommunizieren und wissenschaftliche Aussagen von persönlichen Wertungen zu trennen.
Der Mythos und die Geistes- und Sozialwissenschaften
Mit den Spätfolgen des allzulange tolerierten Mythos sind auch die Geistes- und Sozialwissenschaften konfrontiert. Im allgemeinen werden sie vom Mythos ohnehin nicht erfaßt. Da sie - für jederman offensichtlich - keine eindeutigen Lösungen und unumstößlichen Wahrheiten produzieren, werden sie mit beeindruckender Regelmäßigkeit aus dem Bereich der wahren Wissenschaften hinausdefiniert.

Sind diese Wissenschaften dann einmal zu nicht wirklich wissenschaftlichen Wissenschaften erklärt - man denke etwa an den Begriff der "soft sciences" - stellen sie auch keine Bedrohung des Mythos mehr dar. Das ändert allerdings nichts am Umstand, dass die VertreteterInnen der "soft sciences" - meines Erachtens vollkommen zu Recht - an der Wissenschaftlichkeit ihrer Beiträge zum Diskurs über beispielsweise den "War on Terrorism" festhalten. Das stört den Mythos dann doch erheblich.
Intoleranz gegenüber intellektuellen Abweichlern
Ein rezenter Artikel in der "Washington Post" beschäftigte sich mit dem Problem der wachsenden Intoleranz an amerikanischen Universitäten gegenüber Abweichlern, also Wissenschaftern, die andere oder differenzierte Sichtweisen der aktuellen Situation in die Diskussion einbringen. Zur Zeit besteht die Tendenz, jeden Ansatz einer rationalen und alle Perspektiven einbeziehenden Analyse der Krise als Versuch einer Verharmlosung der Ereignisse vom 11. September darzustellen.

Damit wird eine Grundaufgabe der Universitäten, nämlich die Pflege unabhängigen Denkens, einer harten Belastungsprobe unterworfen. Diesmal ist sie besonders hart, weil der Druck nicht von der Regierung kommt, sondern von einer Öffentlichkeit, die eine bestimmte Art des intellektuellen Umgangs mit den Ereignissen des 11. Septembers, den Ursachen und den Folgen normiert hat. Dieser Druck zur mehrheitskonformen Interpretation kommt vielfach auch von Studenten.

Die Erosion der spezifischen Rolle der Universitäten in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hat natürlich lange vor dem 11. September begonnen und hat viele Gründe. Das gesellschaftliche Klima hat diesen Prozeß aber beschleunigt und droht den komplexen gesellschaftlichen Konsens zu unterminieren, dass Universitäten und dort betriebenes Denken und intellektuelle Auseinandersetzung mit der Gesellschaft gefördert wird, und zwar auch dann wenn die Resultate wenig genehm sind.
->   Artikel in der Washington Post über die wachsende Intoleranz an Amerikas Universitäten gegenüber vom "Mainstream" abweichenden Meinungen.
Was wissenschaftliche Wahrheit ist
Das menschlich verständliche Wunschdenken, die Wissenschaft möge uns statt Hypothesen und Theorien klare - und idealerweise auch die erwünschten - Antworten liefern, führt dazu, dass vielfach angenommen wird, die Wissenschaft könnte uns die Entscheidung darüber, wie wir mit den von ihr gelieferten Antworten umgehen, abnehmen.

Wenn in einer Gesellschaft derartiges "wishful thinking" nicht mehr als Illusion erkannt wird, dann erübrigt sich auch scheinbar die Ausbildung denkender Menschen. Das Denken übernehmen dann die Wissenschafter, die uns die Entscheidungen so aufbereiten, dass wir uns nur zwischen den von ihnen als "gut" und "schlecht" beschriebenen Optionen entscheiden müssen.

An die Stelle der Verifizierung wissenschaftlicher Argumente durch den gebildeten und denkenden Laien treten dann Hierarchien und die Zertifikation als Experte: wahr ist es, weil es der Herr Professor sagt; wahr ist es, weil es mein Guru sagt; wahr ist es, weil es in der Zeitung steht; wahr ist es, weil sie eine anerkannte Expertin ist.
 
 
 
ORF ON Science :  Philipp Steger :  Wissen und Bildung 
 

 
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