Host-Info
Otto H. Urban
Institut für Ur- und Frühgeschichte,
Universität Wien
 
ORF ON Science :  Otto Urban :  Wissen und Bildung .  Gesellschaft 
 
Ur-Ethnographie: Auf der Suche nach den Ursprüngen der Kultur
Die Sammlung Dr. Goldstern im Volkskundemuseum Wien
 
  Der Urkultur auf der Spur - Volkskunde vor 100 Jahren. Letzte Chance, die Ur-Ethnographie im Volkskundemuseum zu sehen. Gezeigt wird die Sammlung Eugenie Goldstern, eine Volkskundlerin, deren Bedeutung erst jetzt gewürdigt wird.  
Volkskunde vor 100 Jahren

Grasumhänge im alpinen Raum.
Links: Ötzi, 4. Jt. v. Chr.
Rechts: Schafhirte aus Kroatien, Kupferstich, 1821.
Die Situation der anthropologischen Disziplinen (Ethnologie, Prähistorie, Anthropologie) vor rund 100 Jahren, die geprägt waren durch Konzepte von "Primitiv-" bzw. "Naturvölkern" und der Suche nach dem Elementaren, dem unverfälschten Primitiven, wurde in letzter Zeit von der österreichischen Volkskunde durch mehrere Publikationen, einem Symposion und einer Sonderausstellung bearbeitet und dargestellt.

Ein bekanntes Beispiel für die alpine "Urkultur" stellt der Grasmantel dar, welcher bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts in Teilen Kroatiens und der Steiermark belegt ist. Regenschutz aus Grasgeflecht wurde bereits in der antiken griechischen Literatur beschrieben. Pomponius Mela berichtet über Bastmäntel bei den Germanen. Der Grasumhang von Ötzi bestätigt eindrucksvoll das hohe Alter dieses Kleidungsstückes im alpinen Raum.
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Katalog des ÖVM
Ur-Ethnographie im Wiener Volkskundemuseum
Die noch bis Sonntag, den 13. Februar, zu sehende Sonderausstellung Ur-Ethnographie im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien zeigt nicht nur die bisher kaum ausgestellte Sammlung von Dr. Eugenie Goldstern, sondern macht auch mit der Biographie einer der ersten Volkskundlerinnen Österreichs bekannt. Ein beklemmendes Beispiel für den steinigen Berufsweg - von Karriere kann kaum gesprochen werden - einer akademisch gebildeten selbstbewussten Frau in der Zeit der 1. Republik.
->   Österreichisches Volkskundemuseum
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Eugenie Goldstern, geb. 1883 in Odessa, erm. 1942 in Izbica

Goldstern, o.J.
© Frances Freeman
Eugenie Goldstern wurde 1883 in Odessa geboren und erlebte ihre Kindheit und Jugend in einer gut situierten jüdischen Kaufmannsfamilie. In der großbürgerlichen Familie war deutsch Umgangssprache. Odessa war damals eine blühende Hafenstadt am Schwarzen Meer.

Früh lernte sie bereits die Natur- und Reisebeschreibungen Alexander von Humboldts kennen. Rahel Varnhagen von Ense, welche seit 1793 im Mittelpunkt eines literarischen Salons in Berlin gestanden hat, wird ihr Vorbild. Bekannt sind die "Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense", welche 1860 in fünf Auflagen erschienen (Übersetzungen in Englisch, Französisch und Dänisch folgen).
->   Rahel Varnhagen (www.judentum-projekt.de)
->   Varnhagen (www.varnhagen.info)
Flucht aus Odessa

Goldstern, 1905.
Nach dem Tode ihres Vaters verließ die Familie Odessa, die 1905 durch blutige Unruhen erschüttert wurde. Immer wieder kam es zu massiven Übergriffen gegen die große jüdische Gemeinde, die fast ein Drittel der Bevölkerung von Odessa ausmachte.

Es ist jene Zeit, in welcher der Matrosenaufstand auf dem Panzerschiff Potemkin stattfand (berühmt durch den gleichnamigen Stummfilm von Sergej Eisenstein). Nur wenige Wochen vor den Massakern durch die zarentreuen weißrussischen Truppen betrat Eugenie Goldstern gemeinsam mit ihren Geschwistern erstmals Wiener Boden.
->   Eisenstein, Panzerkreuzer Potemkin

 


Odessa, neuer Hafen (vor 1905). Alte Postkarte.
(Quelle: http://www.us-genealogy.com)
1905: Studium an der Universität Wien bei M. Haberlandt

Spielzeugkühe aus Graubünden.
Vor genau 100 Jahren kam Eugenie Goldstern mit ihren Familienangehörigen nach Wien.

1912 begann sie mit dem Studium der Volkskunde bei Michael Haberlandt, Dozent an der Universität Wien und Direktor des 1895 gegründeten Volkskundemuseums.

Ihr Interesse gilt vor allem der hochalpinen Volkskultur. Haberlandt lenkt die Aufmerksamkeit auf Völker in Rückzugsgebieten und Sprachenklaven. Er hält die Erforschung von Kinderspielzeug für überaus ergiebig, denn er sieht das Kind als eine Art Urmensch mit einem prähistorischen Bewusstsein, schreibt Albert Ottenbacher in seiner 1999 im Mandelbaum-Verlag erschienenen, lesenswerten Goldstern-Biographie.
Anthropologische Disziplinen
Aus heutiger Sicht erscheint der Vergleich früher Kulturen mit den Vorstellungen von Kindern naiv, findet sie sich doch bereits in der Antrittsvorlesung von Friedrich Schiller.

Im Wien der Jahrhundertwende war allerdings die Suche nach den Elementaren weit verbreitet. Die Prähistorie untersuchte die kulturellen Überreste vergangener schriftloser Kulturen, die Ethnographie beschrieb so genannte Naturvölker, die Anthropologie versuchte die Träger dieser primitiven Kulturen zu klassifizieren und die Volkskunde erforschte die Überreste einfacher Kulturen in Europa. Die vergleichende Methode wurde eine weit verbreitete Arbeitsweise in zahlreichen Geistes- und Naturwissenschaften.
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Anthropologische Gesellschaft in Wien
Noch heute sind Vertreter dieser Disziplinen (Ur- und Frühgeschichte, Völkerkunde, europäische Ethnologie und Humanbiologie), die sich im Unterschied zu den classical studies mit den sozioökonomischen Aspekten und Niederschlägen vergangener wie heutiger Alltagskulturen und ihre Auswirkungen auf die Menschen beschäftigen, in der Anthropologischen Gesellschaft verbunden. Eine wissenschaftliche Gesellschaft, die in Zeiten hoher Spezialisierung eine Plattform für interdisziplinären Erfahrungsaustausch bietet und ihren Sitz im Naturhistorischen Museum Wien hat.
->   Anthropologische Gesellschaft in Wien,
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Erste Feldforschungen in Savoyen

Kerbhölzer (sog. Tesseln) aus Wallis.
Bei Goldstern fielen die Ideen Haberlandts auf fruchtbaren Boden. Bereits 1912 sucht Goldstern erstmals den Wallis auf. Sie sucht, entsprechend den Vorstellungen ihres Lehrers, den Ursprung der Kulturen nicht im Zweistromland, sondern in abgelegenen hochalpinen Gemeinden.

Neben Spielzeug werden Kerbhölzer bevorzugte Sammel- und Forschungsobjekte. 1913 betritt sie zum ersten Mal Bessans, mit 1.743 m Seehöhe eine der höchst gelegenen und das ganze Jahr durchgehend bewohnten Siedlungen des Alpenraumes. In Bessans, etwa 100 km östlich von Grenoble, in Savoyen gelegen, erforscht Goldstern die spezifisch romanische Wirtschaftsform, die geprägt ist durch eine gemeinsame Bewirtschaftung von Weiden und Mähwiesen.

 


Reich verzierte, stilisierte Spielzeugkühe aus Graubünden.
Teilnehmende Beobachtungen und Gespräche
Sie lebt mit den Menschen im Dorf, gewinnt ihr Vertrauen und führt zahllose Gespräche mit den Dorfbewohnern. Sie beobachtet genau, dokumentiert mit Plattenkamera und Phonographen und sammelt systematisch Relikte. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, muss sie jedoch das französisch-italienische Grenzgebiet verlassen.
->   Bessans heute

 


Wohn-Stall-Haus aus Bessans;
Photo von Eugenie Goldstern, Ausschnitt.
Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges
In Wien lehrte inzwischen Arthur Haberlandt, der Sohn von Michael Haberlandt, als Dozent. Er war, ebenso wie sein Doktorvater Moritz Hoernes (der erste Ordinarius für Urgeschichte und Gründer des Prähistorischen Instituts an der Universität Wien, heute Institut für Ur- und Frühgeschichte), nicht frei von völkischen und rassischen Vorurteilen - die dumpfen Ideen einer nordischen Herrenrasse und der Deutschtümelei finden sich allerdings, meines Wissens, nicht in Hoernes und Michael Haberlandts Schriften.
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Jahrhundertwende: Völker-Schauen im Tiergarten
Es ist jene Zeit, in der die Naturwissenschaftler noch dachten, durch exakte und systematische Vermessungen von Skeletten menschliche Rassen mit spezifischen Eigenschaften und Verhalten definieren zu können. Naturvölker waren exotisch und stießen in dem Land, welches keine Kolonien besaß, auf großes Interesse.

Ein breites Publikum fand damals in Wien die Zurschaustellung primitiver Naturvölker im Tiergarten. Kommentatoren sprachen bereits 1896 von einem Aschanti-Fieber, welches die Stadt Wien erfasste. Peter Altenbergs teilnehmende Beobachtungen im Afrikanischen Dorf erbrachten auch einen literarischen Niederschlag in der Skizzensammlung Ashanteé. Sein Interesse galt allerdings, so mein persönlicher Eindruck auf Grund der im Jüdischen Museum gezeigten Altenberg-Ausstellung, weniger den Kulturen, als in erster Linie den jungen, schwarzen Mädchen.
->   Altenberg, Ashantee (dieper.aib.uni-linz.ac.at)
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Promotion 1920 in Fribourg

Tafel aus Dissertation
Goldstern wechselt zu Prof. van Gennep nach Neuchatel, hält daneben die Beziehungen zu Wien, macht eine Reise nach Ägypten, besucht Paris. Sie ist eine unabhängige Frau, Weltbürgerin, spricht deutsch, russisch, polnisch, französisch, italienisch und beherrscht mittlerweile auch die savoyardische Mundart, eine Mischung aus Französisch und Italienisch, perfekt.

Van Geppert verliert jedoch seine Professur in der Schweiz, sie wechselt dann an die Universität Fribourg zu Professor Girardin, der einen Lehrstuhl für Geographie besetzt und ebenfalls die Wirtschaftsformen im Alpenraum erforscht. So schließt sie ihr Studium summa cum laude in Geographie ab und wird 1920 promoviert.

Ihre Dissertation über Bessans mit dem Untertitel: Volkskundliche monographische Studie über eine savoyische Hochgebirgsgemeinde erscheint dann 1922 als Ergänzungsband zum 27. Jahrgang der Wiener Zeitschrift für Volkskunde in Wien. Er wird zur Gänze von ihr finanziert.
->   Österreichische Zeitschrift für Volkskunde
Spenden und Stiftungen

Bessaner Schnitzereien.
Trotz des erfolgreichen Studienabschlusses und weiterer Forschungen im Aostatal, gelingt es ihr nicht beruflich Fuß zu fassen. Ein größerer Beitrag über alpine Spielzeugtiere erscheint noch 1924 in der Wiener Zeitschrift für Volkskunde.

Zwischen 1911 und 1930 übergibt sie fast jährlich ausgewählte Objekte dem Museum für Volkskunde. Um die 800 Objekte ihrer Forschungen sind heute im Inventarbuch des Volkskundemuseums erfasst.

Sie hilft dem Verein für Volkskunde und dem Volkskundemuseum aber auch finanziell in der schwierigen Nachkriegszeit. Insgesamt stiftet sie über eine Viertelmillion Kronen. Es wird ihr aber nicht gedankt, in der Volkskunde war damals offensichtlich kein Platz für eine jüdische Forscherin.
Das traurige Ende

Biographie von Albert Ottenbacher
Das oftmals nationale und in nicht geringem Maße rassistische, insbesondere antisemitisch geprägte Umfeld in Wien führte zu immer tief greifenderen Depressionen.

Sie zog sich immer mehr ins Privatleben zurück und lebte bei ihrem Bruder, einem erfolgreichen Arzt, in der Fangoklinik. 1930 soll sie noch eine ehrende Auszeichnung erhalten haben, zu der ihr Michael Haberlandt gratuliert hatte.

Nach dem "Anschluss" 1938 konnten viele ihrer Familienmitglieder ins Ausland flüchten, Eugenie Goldstern blieb aber in Wien, sie wurde 1942 nach Izbica deportiert und ermordet.
->   Mandelbaum Verlag Wien
Wissenschaftlicher Wert
Goldsterns Dissertation ist eine der ersten ethnologischen Gemeindemonographien im (hoch)alpinen Raum, ihre Dokumentation der Stallwohnungen mit Kastenbetten, Ziegen- und Rinderstall, Herrgottswinkel und Herdstelle sowie zur Heuernte hat heute noch dokumentarischen Wert.

Ihre Sammlung zeigt aber auch die Vorstellungen, welche die anthropologischen Disziplinen anno 1900 von einer Kultur gehabt haben. Im Mittelpunkt stehen Relikte, wie Salzbehälter, Lampen, naive Skulpturen, Spielzeuge, Beinschlitten, welche einen archaischen Charakter in Form oder Dekor (scheinbar) widerspiegelten.
Zeitzeugnis
Diese selektive Auswahl von Einzelstücken sollten die traditionelle Kultur darstellen; fremde Einflüsse, die aus den Tälern bzw. Städten in die abgelegene Gemeinschaft kamen, wurden nicht nur nicht gesammelt und dokumentiert, sondern bewusst ausgespart.

So stellen die Sammlungstücke letztendlich ein wissenschaftliches Konstrukt einer urban geprägten Wissenschaftsgemeinschaft dar, welche um 1900 die "Exotik" scheinbar zeitlich wie räumlich fern liegender Kulturen auf der Suche ihres eigenen Ursprungs entdeckte.

Die Sammlung Dr. Eugenie Goldstern wie ihre Biographie stellen ein eindrucksvolles Zeitzeugnis der ausgehenden Monarchie (des Lueger Wiens) und der Ersten Republik dar - aus der Sicht einer selbständigen Frau, einer engagierten Kulturwissenschaftlerin und Feldforscherin sowie, letztendlich, einer Jüdin.
->   Biographie Eugenie Goldstern (www.doew.at)
Bildrechte
Alle Abbildung aus dem Katalog Ur-Ethnographie, herausgegeben von Franz Grieshofer, Österreichisches Museum für Volkskunde, Bd. 45 und der Eugenie Goldstern-Biographie von Albert Ottenbacher, erschienen im Mandelbaum-Verlag.
->   Weitere Bilder zur Ur-Ethnographie
Weiterführende Beiträge von Albert Ottenbacher
Die Hinweise auf die nachstehenden Links verdanke ich einer freundlichen Mitteilung von A. Ottenbacher.
->   Museum in Sippenhaft?
->   Tod einer Randfigur
->   Weitere Artikel von A. Ottenbacher
 
 
 
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